In beeindruckender Geschwindigkeit haben sich in den letzten 20 Jahren Zielsetzungen, Tätigkeitsfelder und Forschungsinteressen des Bauens in Deutschland vom Neubau auf das Um- und Weiterbauen verschoben. Längst steht nicht mehr nur das „Erhalten historisch bedeutsamer Bauwerke“ auf der Agenda, dem ab 1985 der bahnbrechende DFG-Sonderforschungsbereich 315 gewidmet war. Die großen Herausforderungen durch Klimawandel und Ressourcenverknappung sowie die mit Neubaumaßnahmen einhergehende Versiegelung und Zerstörung von Naturräumen erzwingen einen weit darüber hinaus reichenden grundlegenden Wandel der Leitbilder des Bauens. „Bauen im Bestand“ ist das Schlagwort der Stunde, der jüngste Baukulturbericht der Bundesstiftung Baukultur fordert eine „Neue Umbaukultur“, und Initiativen wie Architects for Future stellen sogar die Legitimität von Abrissen ganz grundsätzlich in Frage.
Ein junger Begriff mit altertümlichem Klang
In unmittelbarer Korrelation zu diesem signifikanten retrofitting turn steht der Begriff „Ertüchtigung“. Die Wortschöpfung aus dem 19. Jahrhundert basiert auf dem Adjektiv „tüchtig“ (fähig, wertvoll; viel), das ebenso wie das Substantiv „Tugend“ zu einer auf das Verb „taugen“ zurückführbaren Wortgruppe gehört. „Ertüchtigung“ umschrieb anfangs physische, aber auch psychische Akte, die Menschen für bestimmte Aufgaben oder Zwecke in der modernen Arbeits- und Lebenswelt tauglicher machen sollten. Nach dem inflationären und unseligen Einsatz bis hin zur „rassischen Ertüchtigung“ in der NS-Zeit schien der Begriff nach 1945 verbrannt zu sein.
Rund zwei Jahrzehnte später fand er jedoch allmählich wieder Einzug in den deutschen Wortschatz – nun überraschenderweise im Ingenieurwesen und nicht mehr auf Menschen, sondern auf Artefakte bezogen. Parallel zum Auslaufen der Hochmoderne lässt er sich seit Beginn der 1980er Jahre auch im Bauwesen nachweisen. Umschrieb „Ertüchtigung“ hier zunächst vor allem die Tragfähigkeitssteigerung bestehender Bauten, erlebte der Terminus seit den 2010er Jahren dann eine geradezu explosionsartige Ausbreitung und drang als Ergänzung zu etablierten Fachwörtern wie „Sanierung“ oder „Modernisierung“ in immer weitere Kontexte vor (Gebäudetechnik, Brand- und Schallschutz, Ökobilanz …). Sein heutiger Gebrauch umfasst außerdem nicht mehr nur die Erhöhung der Leistungsfähigkeit, sondern inkludiert häufig auch solche baulichen Maßnahmen, die lediglich der Wiedergewinnung des ursprünglichen Bauwerkszustandes im Sinne einer „Instandsetzung“ dienen.
Ertüchtigung in der Hochmoderne
Ungeachtet der noch jungen Begriffsgeschichte stehen die mit Instandsetzung und Ertüchtigung verbundenen Praktiken in einer Traditionslinie, die bis in die Anfänge menschlichen Bauens zurückreicht: Nicht nur der Neubau, sondern vermutlich mehr noch die Tauglichmachung bestehender Bauten für (neu) gegebene Aufgaben durchzieht als Grundkonstante die Bau- und Konstruktionsgeschichte. Erst die fortschrittsversessene Hochmoderne markiert in dieser Selbstverständlichkeit des Um- und Weiterbauens einen Bruch – exemplarisch verkörpert in Le Corbusiers berühmtem „Plan Voisin“, der halb Paris einer neuen Stadt opfern wollte. Stahl und Beton waren die Baustoffe der neuen Zeit – wen interessierte da noch die Ertüchtigung des Bestandes?
Im Schatten der hochmodernen Neubauwelt blieb das Thema der Tauglichmachung jedoch weiterhin aktuell. So nutzten Bauingenieure die Möglichkeiten der neuen Baustoffe gezielt für die ingenieurwissenschaftlich fundierte Entwicklung neuer Ertüchtigungsmethoden – von der Verstärkung von Bahnbrücken bis zu raffinierten Sicherungsmaßnahmen an gefährdeten Kathedralbauten. Vor allem aber legte gerade das hochmoderne Bauingenieurwesen jene wissenschaftlichen Grundlagen, mit denen heute die Potenziale und Grenzen ertüchtigender Maßnahmen fundiert beurteilt werden können.
Exemplarisch stehen dafür August Wöhlers Versuche zur Dauerfestigkeit von Stahl und das daraus erwachsene heutige Theoriegebäude zur Dauer- und Betriebsfestigkeit dynamisch beanspruchter Bauteile und Konstruktionen. Dass damit auch das zunächst im Maschinenbau etablierte Denken in vorbestimmbaren technischen Lebensdauern in das Bauwesen einzog, war freilich ein zweifelhafter Erfolg, forcierte dieses doch nun eine zuvor nicht gekannte Wegwerfkultur für komplette Bauwerke.
Ertüchtigung für die Hochmoderne
Gleich mehrere Perspektiv-Verschiebungen stellten in den 1970er Jahren im Bauwesen das etablierte hochmoderne Denken zunehmend in Frage. Das wachsende Denkmalbewusstsein führte zu einer sukzessiven Aufweitung des Kulturbegriffs, die dem Erhalt überkommener Baustrukturen generell größere Bedeutung zumaß (Europäisches Denkmalschutzjahr, 1975). Parallel wuchs die Einsicht in die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen (Club of Rome: „Die Grenzen des Wachstums“, 1972; Ölkrise, 1973) und in die fatalen Auswirkungen des ökologischen Raubbaus durch die Industriegesellschaft (Gründung der Partei „Die Grünen“, 1979/80) – ein Paradigmenwechsel, mit dem das Ende der Hochmoderne unmittelbar verbunden war. Nicht mehr nur kulturelle Werte, sondern vor allem Nachhaltigkeitsbilanzen fordern seitdem eine Revision des Denkens in Lebenszyklen und neue Abwägungen und Methoden im Hinblick auf mögliche Ertüchtigungsoptionen.
Ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der Hochmoderne sind die Artefakte dieser eher geschichtsverachtenden Ära selbst Geschichte und historisches Zeugnis einer Schlüsselphase des Anthropozäns geworden. Das bauliche Erbe der Hochmoderne bedarf nun selbst der Ertüchtigung – und macht es den hiermit konfrontierten Akteuren nicht leicht. Die jener Epoche eigenen Funktions-, Material- und Bauteiloptimierungen, die einst seriell gefertigten, doch heute nicht mehr verfügbaren Bauteile oder auch die von Beginn an einkalkulierten begrenzten Nutzungsdauern stellen nur einige der Herausforderungen dar, denen heutige Planer*innen gegenüberstehen.
Die Denkwerkstatt als Ort der disziplinübergreifenden Verständigung
Das Jahresthema “Hochmoderne ertüchtigen – Kulturelle Konzepte und ingeniöse Strategien für ein schwieriges Erbe” wird im Zentrum der dritten Denkwerkstatt des SPP 2255 stehen, die am 6. und 7. Juli 2023 im Haus der Wissenschaft in Braunschweig stattfindet. Im Fokus wird dabei unter anderem stehen, welche Bedeutungen die unterschiedlichen im SPP 2255 beteiligten Disziplinen dem Begriff der Ertüchtigung zuweisen. Darüber hinaus orientiert sich die Denkwerkstatt an den folgenden Leitfragen:
- Wie hat sich das Leitbild Ertüchtigung aus der Hochmoderne heraus entwickelt?
- Welche Zielkonflikte ergeben sich für die Ertüchtigung im Spannungsfeld denkmalpflegerischer, technischer, wirtschaftlicher und heute vor allem auch ökologischer Gesichtspunkte?
- Welche denkmalpflegerischen Herausforderungen stellen sich bei der Ertüchtigung hochmodernen Erbes?
- Welche ingeniösen Strategien und Methoden stehen für denkmalgerechte Ertüchtigungen bereit? Welche neuen Impulse erwachsen hierzu aus der gegenwärtigen Forschung?
- Viel Ertüchtigung ist möglich – aber wieviel Ertüchtigung ist wirklich nötig? Und bis zu welcher Tiefe sind ertüchtigende Eingriffe denkmalpflegerisch wie technisch überhaupt noch sinnvoll und verträglich?
Über diese konkreten Fragen hinaus bietet die Denkwerkstatt die Chance zur kritischen Reflektion etwa über …
- … die in der Bautechnikgeschichte bislang weitestgehend vernachlässigte Geschichte der Ertüchtigung,
- … die Bedeutung aktueller Nachhaltigkeitsdiskussionen für den Umgang mit historischen Baubeständen,
- … die kulturelle Verantwortung des Bauingenieurwesens für das bauliche Erbe der Hochmoderne.