Jahresthema 2025: Material – mehr als nur Baustoff

In einer Welt, in der zunehmend digitale Darstellungen unsere Wahrnehmung dominieren, rückt das physische Material in den Mittelpunkt wie selten zuvor. Es ist der greifbare Gegenpol zur flüchtigen Virtualität, ein Medium, das auf synästhetische Weise Authentizität und Kontinuität vermittelt. Daneben beschränkt sich die Bedeutung von Materialien keineswegs allein auf ihre sinnlich erfahrbaren und symbolischen Werte. Dies gilt nicht zuletzt auch für das Kulturerbe Konstruktion. Der jüngst erfolgte Einsturz der Carolabrücke zeigt eindringlich, wie essenziell eine fundierte Bewertung für den Erhalt historischen Baumaterials und somit für die Bewahrung von Konstruktionen der Vergangenheit für kommende Generationen ist. Die Analyse und Pflege dieser Materialien sind bei weitem nicht nur technische, sondern auch gesellschaftlich relevante Aufgaben.

Material – zum Begriff
Der Begriff „Material“ ist bereits seit dem Spätmittelalter im deutschen Sprachgebrauch nachweisbar. Seine Ursprünge führen auf den mit dem Wort mater (Mutter, allgemeiner auch Ursprung oder Grundlage) verwandten lateinischen Begriff materia. Sowohl Materie als auch Material sind vielschichtige Begriffe, die von abstrakt philosophischen bis hin zu anwendungsbezogenen Kontexten Anwendung finden. In der Physik bezieht sich Materie in der Regel ganz allgemein auf Masse besitzende und Raum einnehmende Stoffe, aus denen unsere Welt aufgebaut ist. Als Material wird die Materie in bearbeiteter oder umgewandelter Form für die technische Zivilisation nutzbar gemacht. Im Kontext des SPP 2255 „Kulturerbe Konstruktion“ interessieren uns besonders die sogenannten Fertigungsmaterialien, aus denen im Zuge eines Produktionsprozesses Baukonstruktionen hergestellt werden können: Werk- und Baustoffe sowie die zugehörigen Vorleistungsgüter, Halbzeuge und sonstige Bauteile.

Materialien der Hochmoderne: Entwicklungen und Erforschung
Während der in Deutschland etwa von 1880 bis 1980 währenden Hochmoderne wurden in einem bis dahin noch nicht dagewesenen Umfang neue Baustoffe eingeführt, bereits vorhandene Materialien optimiert und ihre Anwendung systematisiert sowie die Kapazitäten zu ihrer Gewinnung und Produktion kontinuierlich ausgebaut. Die Übergangsphase zur Hochmoderne ist dabei durch eine bemerkenswerte Häufung von Ereignissen geprägt, in denen entscheidende Grundlagen für das hochmoderne Bauwesen gelegt werden.

So stand etwa infolge der Einführung moderner Produktionsmethoden wie dem Siemens-Martin-Verfahren (1864) und dem Thomas-Verfahren (1878) Ende des 19. Jahrhunderts erstmals hochwertiger Stahl in großem Umfang zur Verfügung. Nahezu parallel wurde 1886 die erste schlüssige Stahlbetontheorie durch Mathias Koenen entwickelt, der zwei Jahre später mit den Flurdecken in den oberen Geschossen des Reichstags auch die erste prominente Anwendung des teilweise noch argwöhnisch beäugten neuen Verbundwerkstoffs in Deutschland vorweisen konnte.

In diesen Jahren des Übergangs kam es außerdem zu ersten großräumig wirksamen Normierungen von Baumaterialien. Mit Erlass von 1868 wurde im Norddeutschen Bund das metrische System verbindlich eingeführt. Auf dessen Basis legte man 1870 für Ziegelsteine ein Normalformat (später „Reichsformat“ genannt) fest, wodurch Planungen weit jenseits des eigenen Heimatgebiets wesentlich vereinfacht wurden. Wenige Jahre später regelte 1878 ein Erlass den Einsatz genormten Zements (zunächst nur für öffentliche Bauten). Und bald darauf folgte 1880/81 mit der Definition von Normalprofilen für Walzeisen eine wichtige Grundlage für die weit verbreitete Anwendung des Baustoffs Stahl.

Eng verbunden mit der Normierung von Baumaterialien war die Gewinnung tiefreichender Kenntnisse zu ihren spezifischen Eigenschaften. Bislang waren Anwendungserfahrungen und privatwirtschaftlich finanzierte Tests wichtigste Herkunft des Wissens vom Verhalten der Baumaterialien gewesen. Für das sich stetig erweiternde Spektrum der verwendeten Baustoffe und ihrer Anwendungen reichte dies nicht mehr aus. Mit der Einrichtung einer „Versuchsstation“ an der Berliner Gewerbeakademie zur Prüfung der Festigkeit von Eisen und Stahl legte das preußische Ministerium für Gewerbe und Handel im Jahr 1871 die Keimzelle der heutigen Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM). Bald schon folgten weitere staatliche Materialprüfungsanstalten, z. B. 1884 am Polytechnikum Stuttgart.

Diese institutionalisierten Einrichtungen zur Untersuchung und Prüfung von Materialien wurden zu Keimzellen neuer Wissenschaftsdisziplinen wie Materialwissenschaft und Werkstofftechnik. Im Wechselspiel mit dem empirisch gewonnenen Wissen entwickelte man Materialtheorien, in denen materialspezifische Reaktionen von Körpern auf äußere Kräfte spezifiziert werden. Grundlage hierfür war insbesondere die Erarbeitung von Materialmodellen, die auf der Grundlage empirisch gewonnener Werkstoffkennwerte wesentliche Aspekte von Materialverhalten und -eigenschaften beschreiben und quantifizieren.

Mit der institutionalisierten Materialprüfung, der Entwicklung theoretischer Modelle zum Materialverhalten und der Normierung markiert die Hochmoderne einen historischen Wendepunkt in der Nutzung und Erforschung von Baumaterialien. Die hierbei geschaffenen Grundlagen prägen Bauwesen und Werkstofftechnik bis in unsere Zeit.

Konkurrenz der Materialien
Bei aller Vielfalt der während der Hochmoderne verwendeten und neu entwickelten Baumaterialien bildetet sich rasch eine die Epoche prägende Aufteilung des Ingenieurbaus in den Massiv- bzw. Stahlbetonbau auf der einen und den Eisenbau auf der anderen Seite heraus. Diese Trennung manifestierte sich von der Materialgewinnung und -herstellung durch die sich stürmisch entwickelnde Baustoffindustrie über die zunehmend potenten Bauunternehmen bis hin zu den sukzessive eingerichteten Interessenverbände wie dem Deutschen Stahlbauverband oder dem Deutschen Beton-Verein.

Welches Baumaterial bevorzugt wurde, hing zunächst von spezifischen Anforderungen an seine Eigenschaften wie etwa Feuersicherheit oder Korrosionsbeständigkeit ab. Eine zentrale Rolle spielte natürlich auch die Wirtschaftlichkeit, die stark von zeitbedingten Schwankungen bei der Verfügbarkeit der nötigen Rohstoffe, politischen Rahmenbedingungen oder den Herstellungskosten beeinflusst wurde. Nicht zuletzt im Zuge ausgeprägter Mangelsituationen – beispielsweise während der Kriege oder der Hyperinflation – griff man im hochmodernen Bauwesen zudem regelmäßig auch auf Ersatzmaterialien zurück, etwa auf den im Zusammenhang mit der Hochmoderne häufig übersehenen Holzbau.

Material und Konstruktion
Prägendes Merkmal des konstruktiven Ingenieurbaus der Hochmoderne blieb dennoch die dominierende Rolle von Stahl und Stahlbeton, die letztlich noch heute Bestand hat. Zugleich schlug aber der Verbundbau schon ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend Breschen in die verhärteten Fronten zwischen Stahl und Stahlbeton. Hinzu traten verstärkte Versuche zur Nutzbarmachung von Kunststoffen oder Textilien.

Aus den spezifischen Eigenschaften der jeweiligen Baumaterialien erwuchsen dabei rasch ganz eigene Tragwerkskonzepte mit spezifischen Fähigkeiten und Eigenschaften wie etwa Rahmen, Schalen oder Seil-, Netz- und Membranstrukturen. Die nach solchen Prinzipien errichteten Bauten verdeutlichen oft anschaulich den engen Zusammenhang zwischen Material und Konstruktion.

Das dem Bauen seit jeher zugrundeliegende Prinzip einer möglichst materialgerechten Konstruktion erfährt während der Hochmoderne allerdings einige entscheidende Erweiterungen. Mit Otto Wagner forderte schon 1896 ein Gründervater der architektonischen Moderne ein „energisches Vortreten von Konstruktion und Material“ in der zukünftigen Architektur. Das Zusammendenken von Material, Konstruktion und Form wurde zu einer entscheidenden Basis, die das hochmoderne Bauen über viele unterschiedliche Strömungen zusammenband, deren politische als auch soziale Interessen sich häufig konträr gegenüberstanden. Ein nicht selten eher metaphorischer Zugang sorgte in der Architektur der Hochmoderne dabei allerdings in vielen Fällen dafür, dass, wie Rudolf Stegers rückblickend resümierte, „der Umgang mit Material und Konstruktion zwar kunstfertig, doch nicht sachgerecht“ war.

Materialität
Die weit über die grundlegenden physikalischen und physiognomischen Eigenschaften hinausreichende ideologische Aufladung bestimmter Baumaterialien während der Hochmoderne verweist auf eine im ingenieurhistorischen Diskurs zumeist übersehene Dimension, die sich im Schlagwort der „Materialität“ niederschlägt. Der in unterschiedlichsten wissenschaftlichen Fächern geläufige Ausdruck verweist zunächst auf die sinnlich erfahrbare Stofflichkeit eines jeden Dings.

Daneben tritt noch eine vielschichtige kulturelle Dimension. Materialien blicken zumeist auf eine komplexe „Geschichte ihrer Verwendungsweisen“ (Monika Wagner) zurück, in deren Verlauf sich ihre Wertschätzung gerade auch über ihr jeweiliges Verhältnis zu Form und Funktion verändert. Neben materielle treten so häufig auch immaterielle Werte, und durch beide können Materialien mit Bedeutung aufgeladen oder auch abgewertet werden. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu zentralen Fragen der heutigen „material culture studies“ in den Sozial- und Kulturwissenschaften, nämlich, wie Dinge oder Artefakte soziale Identitäten konstruieren, erhalten und verändern können oder welche Verbindungen zwischen ihnen und menschlichen Handlungen in vielfältigen Kontexten bestehen.

Heutiger Blick auf Materialien
Zu den ästhetischen, politischen, ökonomischen oder sozialen Dimensionen von Materialität sind in jüngerer Zeit insbesondere noch die Themen Ökologie und Nachhaltigkeit. Vor wenigen Jahren überschritt der jährlich weltweit anfallende Ressourcenverbrauch der Menschheit erstmals die Marke von 100 Milliarden Tonnen, wobei mehr als die Hälfte auf den Bausektor entfiel. Ökologisches Bauen, Urban Mining oder Kreislaufwirtschaft mit für die spätere Wiederverwendung optimierten „sortenreinen“ Baustoffen prägen deshalb zunehmend unseren Blick auf Materialien für zeitgenössisches Bauen.

Zugleich geht es darum, möglichst viel der bereits vorhandenen Bausubstanz zu erhalten. Die historischen Trag- und Ausbaukonstruktionen des noch relativ jungen baulichen Erbes der Hochmoderne sind hierbei oft besonders anspruchsvoll. Zur Dauerhaftigkeit der dort verwendeten Materialien bestehen noch keine Jahrhunderte alten Erfahrungen. Viele von ihnen wurden erst während der Hochmoderne neu entwickelt und zudem nicht selten schon nach relativ kurzer Zeit durch (oft nur vermeintlich) optimierte Varianten ersetzt.

Hierdurch stehen sowohl das Ingenieurwesen als auch die Denkmalpflege vor besonderen Herausforderungen. Spielte etwa die Materialprüfung im Kontext der Hochmoderne eine zentrale Rolle vor der Einführung und Verwendung bestimmter Baustoffe, so gilt es heute, mittels intelligenter Lösungen den Ist-Zustand einzelner Baumaterialien und -teile zu ermitteln oder gar vorherzusagen. Lässt sich der Austausch bestimmter Elemente nicht vermeiden, so stellen sich aus denkmalwissenschaftlicher Perspektive mannigfaltige Fragen hinsichtlich von Authentizität und Integrität der historischen Baukonstruktionen.

Ausblick
„Der Baustoff ist die Basis allen Bauens“ – die 1998 von Jochen Stark und Bernd Wicht in ihrer Geschichte der Baustoffe getroffene Aussage trifft gerade auch für das reichhaltige konstruktive Erbe der Hochmoderne zu. Ohne größere Gedanken an Schadstoffe oder Dauerhaftigkeit zu verschwenden, begeisterte man sich damals wie 1925 der schweizerische Avantgarde-Architekt Hans Schmidt daran, dass „unsere heutigen Laboratorien und Fabriken das jeder Forderung des Bauens entsprechende Material zusammen[stellen]“ und in „die von der Bautechnik geforderten Einheiten: Platten, Tafeln, Stäbe, Blöcke, u.s.f. […] giessen, pressen und walzen“ konnten, wobei sie „jedes Material nach Dimension und Eigenschaft bis aufs Letzte“ ausnutzten.

Ludwig Hilberseimer wiederum stellte 1928 die rhetorische Frage, ob die für die Baukunst zwangsläufig verpflichtend geltenden Gesetze der Materie „ein für allemal die gleichen“ seien oder ob nicht „ein neues Material, eine neue Konstruktionsmöglichkeit neue Gesetzmäßigkeiten“ diktiere. Natürlich wusste der tief im hochmodernen Fortschrittsdenken verwurzelte Hilberseimer nur zu gut, dass letzteres der Fall ist: Neue Ideen verlangten nach neuen Materialien, während neue Baustoffe die Möglichkeit boten, neue Ideen zu materialisieren.

Das vom steten Drang zur Innovation getriebene Experimentieren mit dem Material, die kontinuierliche Einführung neuer Baustoffe, ihre Normierung und wissenschaftliche Erforschung prägen bis heute das Bauwesen. In einem Zeitalter, in dem ein nachhaltiges, die Ressourcen schonendes und historische Substanz bewahrendes Bauen massiv in den Fokus rückt, gilt es umso mehr, unsere Kenntnisse hochmoderner Baumaterialien auszubauen, um Denkmalpflege und Ingenieurwesen das nötige Handwerkszeug für die ökologischen und kulturellen Aufgabe des Erhalts der Baukonstruktionen der Hochmoderne an die Hand zu geben.

Leitfragen

Als Anstoß für die Vorbereitung der Denkwerkstatt sollen einige Leitfragen die Vielschichtigkeit des Begriffs und der damit verbundenen Themen verdeutlichen – ungeachtet dessen, dass sie im Rahmen der eintägigen Denkwerkstatt nicht etwa als Ganzes behandelt oder gar erschöpfend beantwortet werden können:

  • Welche neuen Materialien kennzeichnen – jenseits von Stahl, Beton und ihren Verbünden – die Bautechnik der Hochmoderne – im Tragwerk, aber vor allem in den Fassaden?
  • Welche markanten historischen Entwicklungslinien zeichnen sich im Verlauf der Hochmoderne ab? Wie nachhaltig waren die Innovationen auf der Materialseite, wie verbreitet scheiterte die Einführung neuer Materialien? Welche Einflussgrößen beeinflussten Erfolg oder Scheitern?
  • Wie waren Material, Konstruktion und wirtschaftliche Interessen miteinander verflochten? Inwieweit forcierten bautechnische Ansprüche die Materialentwicklung, inwieweit gab die mit wirtschaftlichen Interessen verbundene Entwicklung und Vermarktung neuer Materialien Impulse für neue Konstruktionsweisen?
  • Welchen Auswirkungen zeitigte die Konkurrenz der Stakeholder unterschiedlicher Materialien (etwa zwischen Stahl- und Stahlbeton-Baufirmen) auf die Entwicklung der Bauweisen?
  • Wie waren Material, Konstruktion und gestalterische Interessen miteinander verflochten? Inwieweit prägte das für die architektonische Moderne charakteristische Ideal einer schlüssigen Synthese von Material, Konstruktion und Form auch den Ingenieurbau?
  • Was charakterisiert hochmoderne Materialien – in der Herstellung, in der Konstruktion, im Gebrauch, in der Alterung, in der Möglichkeit der Wiederverwendung? Was sind ihre spezifischen Qualitäten, was ihre schwierigen Seiten über den gesamten Lebenszyklus gesehen?
  • Welche spezifischen Herausforderungen sind heute mit den Baumaterialien der Hochmoderne in Hinblick auf Erhalt und Entwicklung der Bauwerke verbunden – im Tragwerk, in der Fassade?
  • Welche neuen, erweiterten Möglichkeiten der Schadenserfassung und Zustandsbewertung hochmoderner Baumaterialien haben Materialwissenschaften und Bauingenieurwesen in jüngster Zeit entwickelt, um etwa Ermüdungsfortschritte oder Korrosionsentwicklungen möglichst realitätsnah modellieren und prognostizieren zu können?
  • Welche besonderen Zeugniswerte sind den Materialien der Hochmoderne eigen, was erzählen gerade die Werkstoffe von den Besonderheiten hochmodernen Konstruierens?
  • Welche darüber hinaus gehenden Bedeutungsdimensionen sind mit der Materialität der Baustoffe verbunden? Welche Spuren haben kulturelle, soziale, ideologische etc. Aufladungen hinterlassen, inwieweit sind sie für die heutige Bewertung relevant?
  • Welche Konsequenzen hat all’ dies für die Formulierung angemessener denkmalpflegerischer Konzepte und Strategien? Welche Handlungsmöglichkeiten eröffnen sich zwischen „authentischem“ Erhalt, materialgerechter Intervention und materialgetreuem Ersatz?

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