Jahresthema 2022: Authentizität – Ein Leitstern auf dem Prüfstand der Hochmoderne

Authentizität ist zu einem omnipräsenten Begriff geworden, dem grundsätzlich vor allem eines eigen ist: Er ist positiv besetzt, rasch steht er in Verbindung mit Begriffen wie „glaubwürdig“, „echt“, „mit sich eins“, vielleicht auch „wahrhaftig“. Auf jeden Fall ist authentisch gut. Die Etymologie reicht zurück bis in die Antike. Bereits die frühen Kirchenväter bezogen das griechische „αὐθεντικός“ auf die inhaltliche Zuverlässigkeit von Schriftstücken. Im Lauf der Jahrtausende haben sich die inhaltlichen Zuschreibungen immer wieder verändert. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts gewann die Idee des Authentischen ihre heute vorherrschende Deutung und Bedeutung. Einen vorläufig letzten Schub erfuhr das „age of authenticity“ (Charles Taylor, 1991) zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wie nie zuvor und immer stärker verschwimmen die Grenzen von Realität und Fiktion, Natur und Kultur, Original und Fälschung; selbst Körper und Gefühle lassen sich schon beliebig zuschneiden. Es ist dieses Tableau einer Welt verlorener Gewissheiten und obdachlos gewordener Sicherheiten, vor dem die Idee des Authentischen mehr denn je als Rettungsanker und Hoffnungsträger erstrahlt.

Schon Anfang der 1960er Jahre fand der Begriff der Authentizität auch Eingang in die Denkwelt der Denkmalpflege. 1964 erhob ihn die Charta von Venedig zum zentralen Wertmaßstab denkmalpflegerischen Handelns. Das heute vorherrschende Verständnis beschreibt etwa ein Papier des International Scientific Committee on Twentieth Century Heritage des ICOMOS: „Authenticity is the quality of a heritage site to express its cultural significance through its material attributes and intangible values in a truthful and credible manner. It depends on the type of cultural heritage site and its cultural context.“ (Madrid 2011). Doch nach wie vor ist der Begriff alles andere als klar. „Schillernde Unschärfe“ attestierte ihm Tino Mager 2016 in seiner zum Standardwerk gereiften Dissertation zum Begriff der Authentizität im architektonischen Erbe: „Authentizität ist keine unabhängig von Zeit und Raum bestimmte und bestimmbare Kategorie, sie muss jeweils neu gefunden und gefasst werden und sollte eher verstanden werden als temporäres Ergebnis eines kontinuierlichen Aushandlungsprozesses.“ Authentizität ist eine fragile und dynamische Konstruktion – und stets war und ist ihre Bestimmung mit Autorität und Macht verbunden: Wer entscheidet, was authentisch ist?

Erst recht gilt dies für einen Bereich, der im Diskurs bislang kaum Beachtung fand – die Konstruktionen der Hochmoderne. Deren Spektrum reicht von verborgenen Tragwerken über „architekturlose“ Ingenieurbauwerke bis hin zu ausgefeilten Fassaden. Signifikant unterscheiden sie sich durch ihre spezifischen (Verbund-) Baustoffe, Fertigungsprozesse und Bauweisen oder auch durch die signifikante Bedeutung des Tragwerks von Bauten früherer Epochen.

Die Entscheidung, die gleichermaßen bedeutsame wie unscharf schillernde Kategorie der Authentizität zum Jahresthema 2022 des SPP 2255 zu erheben, zielt nicht nur auf die inhaltliche Schärfung des Begriffs in seiner Anwendung auf hochmoderne Konstruktionen. Es geht auch um die Beförderung einer gemeinsamen Verständigungsgrundlage über einen zentralen Terminus der Denkmalpflege zwischen den breit aufgestellten Disziplinen im SPP 2255. Vice versa bietet die interdisziplinäre Arbeit am „authentischen“ Gegenstand die Chance, die Sichtweisen und Kompetenzen der technischen Wissenschaften und Praktiken als neuen, andersartigen Beitrag in den denkmalpflegerischen Diskurs zur Authentizität einzubringen.

Eine Vielzahl von Fragen tut sich auf:

  • Inwieweit relativiert sich die Bedeutung der Originalsubstanz als schützenswertes Gut z.B. angesichts problemlos nachstellbarer Komponenten etwa im Stahlbau?
  • Was definiert jenseits der materiellen Substanz die Authentizität von Konstruktion allgemein und der Konstruktionen der Hochmoderne im Besonderen? Welche Bedeutung kommt dem ingeniösen Konzept, dem gewählten statisch-konstruktiven System oder auch den spezifischen Bauprozessen als authenti-schen Werten zu?
  • In frühen Pionierbauten sind es gerade die noch unreifen Bauweisen mit ihren strukturimmanenten Män-geln, die ihre Authentizität ausmachen, zugleich aber und vor allem auf längere Sicht Sicherheit oder Gebrauchstauglichkeit beeinträchtigen können: Denkmalpflegerisches Interesse will den Mangel schüt-zen, technisches Interesse will ihn beheben – wie umgehen mit diesem Dilemma?
  • Was macht die Authentizität infrastruktureller Gesamtsysteme als Kulturleistung der Hochmoderne aus? In welcher Relation steht die Bedeutung der Gesamtheit zu jener der einzelnen Komponenten?
  • Nicht nur diese Gesamtsysteme wie etwa die Bahnlinien, sondern auch die Technische Gebäudeausrüs-tung (TGA) sind stetigen dynamischen Veränderungen unterworfen: Welche spezifischen Wertmaßstäbe sollten für sie entwickelt werden?
  • Inwieweit sollte man dem mit der unveränderlichen Substanz, dem Produkt des Bauens verbundenen Authentizitätsbegriff das Bild von Authentizität als Prozess gegenüberstellen und damit die ständige Veränderung nicht nur anerkennen, sondern explizit zum besonderen Charakteristikum erheben?

Das Nachdenken über Authentizität ist eine Herausforderung, die scheinbar selbstverständliche Gewissheiten über das Heute wie über das Gestern in Frage stellen kann. Es wird sich zeigen, ob die Auseinandersetzung mit dem Authentizitätsbegriff am Konstruktionserbe der Hochmoderne auch dem allgemeinen Diskurs um die Authentizität von Baudenkmal und Welterbe neue Impulse zu verleihen vermag. Mit Sicherheit aber ist sie ein Schritt auf dem Weg zum übergreifenden Ziel dieses Forschungsverbundes – der Nobilitierung und Inwertsetzung hochmoderner Konstruktion als gesellschaftlich anerkanntes Kulturerbe.

 

Der Begriff der Authentizität steht auch im Zentraum der Denkwerkstatt 2022 des SPP 2255 , die am 12.10.2022 in der Aula des Bauhaus Dessau stattfindet.

Bilder zum Jahresthema 2022

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