Jahresthema 2021: Bauen am Limit – Traditionen und Transformationen eines hochmodernen Leitbilds

Das Kürzel „Bauen am Limit“ steht für gleich zwei, scheinbar fast gegensätzliche Facetten hochmodernen Konstruierens. Angestoßen durch die Entwicklung neuer, menschgemachter Baustoffe vom Stahl bis zum Spannbeton und ermöglicht durch eine immer zuverlässigere ingenieurwissenschaftliche Abbildung des Tragverhaltens auch komplexer Strukturen, strebte hochmodernes Konstruieren wie wohl keine Epoche zuvor nach immer größeren Weiten und Höhen bei gleichzeitiger Minimierung des Materialeinsatzes.

Zugleich aber setzte mit der Hochmoderne um 1880 ein Prozess ein, der unmittelbar mit ihr verflochten war und ohne absehbares Ende bis heute das Baugeschehen prägt – die Entwicklung eines stetig anwachsenden und allumfassenden Regelungsapparats aus Richtlinien, Standardisierungen, Normen und Vorschriften. Dem Erkunden struktureller Grenzen am Limit des bisher Denkbaren und statisch Möglichen stand die Eingrenzung des strukturellen Denkens in kodifizierte Limits des Zulässigen gegenüber.
Es waren dies die beiden Pole, zwischen denen sich hochmodernes Konstruieren bewegte.

Mit seinem ersten Jahresthema „Bauen am Limit“ widmet sich das Schwerpunktprogramm Kulturerbe Konstruktion den Praktiken, Denkmustern und Haltungen, die die Konstrukteure der Hochmoderne in diesem Spannungsfeld entwickelt haben:

  • Was kennzeichnet die „Generation Hochmoderne“ in der Geschichte des Konstruierens? Welche Unterschiede lassen sich zu den Akteuren und Protagonisten früherer Epochen des Konstruierens im Bauwesen ausmachen? Welche Bedeutung kommt dabei speziell dem „Bauen am Limit“ als Charakteristikum zu? Eröffneten „kühne“ Grenzüberschreitungen neue Räume für strukturelle Innovationen?
  • Inwieweit prägte das Konzept der Grenzverschiebung auch den zeitgleich sich ausbildenden Korpus der ingenieurwissenschaftlichen Theorie? Welche Einflüsse aus der Praxis des Bauens befeuerten im Besonderen die seit den 1930er Jahren zu beobachtende paradigmatische Verschiebung des Theorieinteresses hin zu den „Grenzzuständen der Tragfähigkeit“ und der heute üblichen Bemessung mit Bezug auf den „ultimate limit state“?
  • Welchen Stellenwert maßen die Konstrukteure dem wachsenden ingenieurwissenschaftlich fundierten Prognosepotenzial zu, und welche Bedeutung hatte letzteres tatsächlich auf die Grenzverschiebungen im praktischen Bauen? Inwieweit wurden vermeintlich gesicherte Theorien als Legitimation gebraucht – und missbraucht?
    Welche Einflüsse zeitigten die zunehmenden Standardisierungen, Normen und Bauvorschriften? Wie halfen sie, wie hinderten sie neue Grenzgänge des Konstruierens? Wie bewegten sich die Konstrukteure im Spannungsfeld von genormter Sicherheit und kalkuliertem Wagnis?
  • Welche Rolle kam den traditionellen Ingenieurkompetenzen wie Erfahrung, Beobachtung und Messung zu? Wie wurden die Realitäten und Herausforderungen der Bauausführung berücksichtigt? Wie reagierte man auf auftretende Schwierigkeiten?
  • Wie hartnäckig hielten sich Denkfehler und Fehleinschätzungen? Gab es eine strukturelle Verdrängung von Irrtümern? Welche Einflüsse hatten individuelle Kategorien wie etwa persönlicher Ehrgeiz? Wie gingen die Akteure mit Fehlschlägen, mit persönlichem oder auch strukturellem Scheitern um?

Heritage as link to the past as well as to the future

Heritage as link to the past as well as to the future: Gemäß dieser grundsätzlichen Ausrichtung verharrt der Diskurs im Schwerpunktprogramm Kulturerbe Konstruktion jedoch nicht nur im historischen Rückblick. Er spürt ebenso der Rezeption und Reflektion des Paradigmas der Minimierung, oder anders – den Kontinuitäten und Brüchen hochmodernen Effizienzdenkens im heutigen Bauwesen nach:

  • Inwieweit konstruieren hochmoderne Traditionslinien nach wie vor die Identität von Bauingenieur*innen und Architekt*innen? Wo hindern sie? Wo tun sie gut?
  • Wie interpretieren, wie lesen heutige Konstrukteur*innen, wenn sie sich denn überhaupt damit auseinandersetzen, ihr hochmodernes Erbe? Was ist es ihnen wert – als zu bewahrende Zeugnisse von Ingenieurbaukunst, vor allem aber als Impulsgeber für die Entwicklung einer eigenen Haltung und eigener Leitbilder?
  • Wie wird hochmodernes Konstruieren im heutigen Bauwesen übersetzt und fortgeschrieben? An die Stelle des hochmodernen Paradigmas der Minimierung des Materialeinsatzes ist das neue Paradigma der Nachhaltigkeit des Materialeinsatzes getreten: Welche Bedeutung kommt ersterem dabei noch zu? Welche Parameter wie etwa Robustheit, Dauerhaftigkeit, Fertigungsvereinfachung oder Wartungsfreundlichkeit umgeben und relativieren es heute? Inwieweit taugt die Lust am Limit dabei nach wie vor als Leitbild auch für künftiges Konstruieren?
  • Löst nicht gerade erst die aktuelle digitale Revolution in Planung und Fertigung den unvollendeten Anspruch der Hochmoderne auf konsequente Industrialisierung der handwerklichen Bauprozesse ein?
  • Setzt sich andererseits die mit der Hochmoderne geborene Verregelung aller Prozesse des Bauens nicht nach wie vor ungebrochen fort? Und „ticken“ viele der heutigen Bauingenieur*innen – von der Ausbildung bis in den Alltag des Konstruierens – auch in der viel beklagten Reduzierung des Konstruierens auf das Erfüllen von Regelwerken nicht nach wie vor hochmodern?

Aus der Geschichte lernen – das sagt sich so leicht daher. Es geht bei diesem Ausblick in die Praktiken des Heute nicht um rasche Antworten. Es geht vielmehr um die vornehmste Aufgabe jeder Geschichtswissenschaft: Das immer neue Infragestellen scheinbar selbstverständlicher Gewissheiten, oder anders – die produktive Irritation heutiger Praktiken.

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