Stellungnahme zum geplanten Abriss der Ohetalbrücke

Der Abriss der Ohetalbrücke würde den Verlust eines besonders wertvollen Zeugnisses der Ingenieurbaukunst des 19. Jahrhunderts bedeuten. Vollendet im Jahr 1877 als beeindruckend filigranes Strebenfachwerk, ist sie offenbar noch heute weitestgehend im Original erhalten. Die bemerkenswert hohe Authentizität des Bestandes wird ergänzt durch die besondere bautechnikgeschichtliche Bedeutung: Mit Heinrich Gerber, dem Leiter der für den eisernen Überbau verantwortlichen Süddeutschen Brückenbau AG, war einer der führenden deutschen Brückeningenieure seiner Zeit direkt an dem Bauwerk beteiligt.

Die klare, schmucklose Fachwerkstruktur steht exemplarisch für eine Ingenieurästhetik, die im ausgehenden 19. Jahrhundert bereits wesentliche Merkmale der späteren architektonischen Moderne vorwegnahm. Schon zeitgenössische Kommentare hoben die gelungene Gestaltung der Ohetalbrücke als eines Bauwerks „von überwältigendem Eindrucke“ hervor. Doch reicht die baukulturelle Bedeutung derartiger Ingenieurbauten noch weit über die gelungene Gestaltung hinaus. So wie eine romanische Klosteranlage, eine spätmittelalterliche Fachwerkgasse oder eine barocke Gartenanlage unbestritten als kulturelles Erbe gelten und uns heute die gesellschaftlichen Verhältnisse, Denkweisen, Werte und Möglichkeiten ihrer jeweiligen Zeit vermitteln, stehen auch die Brücken des ausgehenden 19. Jahrhunderts als in Gusseisen und Stahl materialisierte Zeugnisse für die Produktionsverhältnisse, ingeniösen Praktiken, gestalterischen Ideale und vor allem den noch ungebrochenen Fortschrittsglauben ihrer Epoche, der Hochindustrialisierung.

Ungeachtet dessen sind selbst die nur sehr wenigen heute noch erhaltenen Eisenbahnbrücken jener Zeit landesweit vom Abriss bedroht. Lange Zeit galten die dafür angeführten Argumente als zwingend, und insbesondere bei Stahlbrücken ist die Materialermüdung ein ernstzunehmender Gesichtspunkt. Aktuelle Forschungsansätze und -erkenntnisse eröffnen jedoch differenziertere Bewertungen der tatsächlichen Trag- und Ermüdungssicherheit sowie neuartige Optionen gezielter punktueller Ertüchtigungen bei grundsätzlichem Erhalt. Erste gelungene Beispiele zeigen eindrücklich die Potenziale derartiger Herangehensweisen auf. Im Ergebnis können sie nicht nur helfen, das „Kulturerbe Konstruktion“ zu bewahren, sondern setzen dem überholten Neubau-Denken den ökologisch ungleich nachhaltigeren Ansatz von Instandsetzen und Weiterbauen entgegen.

Auch wenn wir konkret zur Ohetalbrücke nicht wissen, welche technischen oder funktionalen Gesichtspunkte einen Erhalt unmöglich erscheinen lassen, appellieren wie eindringlich an die zuständigen Behörden und Entscheidungsträger, diese Argumente mit großer Sorgfalt kritisch zu hinterfragen und mögliche, vielleicht auch ungewöhnliche Erhaltungsalternativen ernsthaft und engagiert in Erwägung zu ziehen. Der Erhalt herausragender Beispiele der historischen Infrastruktur ist kein nostalgischer Selbstzweck – er ist ein verantwortungsvoller Beitrag zu einer erinnerungsbewussten, nachhaltigen Baukultur.

Univ. Prof. Dr.-Ing. Werner Lorenz und Dr.-Ing. Roland May – für das SPP 2255.

Ohetalbrücke, Montageplan für Öffnung I, Stand September/Oktober 1876 (Deutsches Museum, NL 044/0526, Bl. 8, CC BY-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)

Ohetalbrücke, Aufblick Öffnungen I und II von Südosten (© Clemens Knobling 2025)

Ohetalbrücke, Öffnung III von Osten (© Clemens Knobling 2025)

Ohetalbrücke von Osten (© Clemens Knobling 2025)

Ohetalbrücke, Montage des Überbaus von Öffnung III, 30.4.1877 (Deutsches Museum, NL 044/0064, Bl. 15, CC BY-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)

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